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Der Maler Stephan Velten, Andy Kern, 1999

Velten, Jahrgang 1954, zählt zu jener Zahl bildender Künstler im Osten Deutschlands, denen daran gelegen war, über die Grenzziehungen des Alltags den eigenen Horizont zu stellen und zu denen, die ihr Gefühl von Bodenständigkeit ernst genug nahmen, um bei der Arbeit, bei der Suche nach individuell definierten Schnittmengen, in Reichweite fündig zu werden. Velten lebt in Potsdam. Hier empfängt er eine ästhetische Grundausstattung, mit welcher der Ort den Sehenden reichlich belädt: die Reize einer Endmoränentopografie, das Zwiegespräch von Land und Wasser, die künstlerische Organisation land-schaftlicher Räume zum einen, zum anderen ein steter Hauch von Geschichte, der um die grindigen Gemäuer weht, Stilbildung und Zitatanreichtum in der Architektur, die Lust am Schmücken und Fabu-lieren, ein ganzheitlicher Gestaltungsanspruch, realisiert oder vernichtet durch die jeweiligen Strukturen der Macht. Früh hat er das Wechselspiel von kulturhistorischer Substanz und einer von Besucherströmen durchspülten Fassadenkultur wahrgenommen. Velten entwickelt sein Material aus den Ursprüngen heraus, aus Wahrnehmungen und Ahnungen, aus Beschwörungen und Visionen, die im Abgleich mit Gewißheiten lustvoll und schmerzhaft sein können. Er hat beizeiten erkannt, daß diese Methode nur zu substanziellen Ergebnissen führt, wenn die Untersuchungen sich auf den Kanon des Sichtbaren einschwören und er ein Bezugssystem akzeptiert, dessen Basis außerhalb der anfälligen Schöpfungs-prozesse eines Künstlers liegt.

In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre studiert Velten in Weißensee Malerei. Ohne ihren postcézanneistischen Stallgeruch anzunehmen, verläßt er die ostberliner Institution mit dem Hochschul-diplom in der Tasche. Zu den Lehrern, die bleibenden Einfluß auf den jungen Maler ausübten, zählt vor allem der Professor für Bildhauerei Werner Stötzer, ein Nestor der Bildhauerkunst im wörtlichen Sinne. Die Persönlichkeit Stötzers ist für eine ganze Generation von Künstlern prägend wie sein beharrliches Festhalten an der menschlichen Figur. Das kraftaufwendig-besessene und nicht korrigierbare Arbeiten direkt in den Stein ist ohne eine stabile konzeptionelle Grundlage und eine unbeirrbare plastische Vorstellungskraft undenkbar. Stötzers vitale Haltung zur verbindlichen künstlerischen Form hat Velten ebenso fasziniert wie das unablässige spielerische Variieren von Themen beim Zeichnen. Das magische Anlegen raumbildender Linien zu einem Organismus, die Schwerelosigkeit und Fabulierkraft in der Bildhauerzeichnung sind Grundlagen, die auch Velten innerhalb seiner Arbeit bis heute zu nutzen weiß. Sei es in zahllosen vorbereitenden oder autarken Zeichnungen, sei es als grafisches Element in der Malerei, das zeichnerische Grundgerüst gehört unverzichtbar in seine Bilderwelt.

Betrachtet man Veltens Werk, so liegt hinter der beachtlichen formalen und thematischen Vielfalt vor allem eins: Kontinuität. Das trifft zunächst auf die Entscheidung für das figurenbezogene Arbeiten zu, aber auch auf die Brechungen und Verfremdungen, auf das Kontapunktische im Duktus, das den Gegenstand, letztendlich alles Dingliche, in einem geistigen Prinzip der Abstraktion wahrnehmbar macht. Und kontinuierlich ist auch die handwerkliche Umsetzung zu nennen, die ständige Prüfung eines konventionellen und oft genug totgesagten Gewerkes auf seine Tauglichkeit für die Belange der Gegen-wart. Vor allem deshalb, weil Velten in diesen Belangen kaum etwas wirklich Neues entdecken kann, hat er wenig Anlaß, ein Medium zu verlassen, das, wie kaum ein zweites, historische Konstanten aufzu-nehmen und mit heutigen Phänomenen zu verbinden vermag. Die Malerei ist für Velten eine Form sinnlicher Existenz. Sie ist Materie für Energien, die in anderer Form unsichtbar blieben. Sie kann Eruptionen hervorrufen und eisiges Schweigen erzeugen, sie kann berühren und bewegen, aus dem dokumentarischen Klang ihres Eigenlebens heraus, der höchstens annähernd beschreibbar und nie restlos zu erklären ist. Auch deshalb kommt der Malerei eine mythische Funktion zu, ein Zwecksetzen, ein Zielen, das im Prozeßhaften verharrt, das Richtungen zuläßt und Wendungen, die sich dem Machtbereich eines physikalischen Weltbildes entziehen. Auch deshalb wählt sich der Maler ein Thema nicht aus, das Thema sucht sich seinen Maler.

Ende der achtziger Jahre hat Velten sein malerisches Arsenal so weit ausgebaut, daß er sich zunehmend darauf konzentrieren kann, Zuständigkeiten zu klären. Radikaler denn je hebt er seine Erfah-rungen aus der Arbeit mit Akt, Interieur und Landschaft auf die Ebene der Abstraktion. Dies geschieht in Serien, Reihen und Werkgruppen. Das Serielle ist für ihn längst zum praktischen Mittel der Verstän-digung über ein Thema geworden und aus seiner Arbeit nicht mehr wegzudenken. Klare Farb-kombinationen dominieren, räumliche Verknappung beherrscht das Bildgeschehen. Die klassische Besetzung von Vorder- und Hintergrund wird vertauscht. Die ferne Kühle von Blautönen, bisweilen zu reiner Schwärze verdichtet, bildet Figurationen, die vor ambivalentgelben Räumen agieren. Hochge-klappte Flächen zwischen Ocker und Citron haben Beiwerk und Staffage in den Abgrund gekippt. Auf dem bereinigten Display bilden sich unentwegt neue Formationen. Gesten, Fragmente und Anatomien isolieren und überlagern sich, vermessen manisch ihren Bildraum, lösen sich auf, finden sich wieder. [Der Sturz, Trauma, Bewegung (1990)] Dieser Vorstoß in eine elementare und zuweilen befreiende Bildsprache fällt nicht zufällig in jene Zeit, die für Deutschland und Europa den Beginn grundlegender Umbrüche markiert. Velten gelingt es, die Zeitdynamik malerisch zu fassen, ohne jemals geschichtliche Zusammenhänge aus dem Auge zu verlieren oder sich von den Kulissen eines euphorischen Alltags blenden zu lassen. Seine Fähigkeit, einfache Formen herauszuarbeiten, die für vielschichtige gesell-schaftliche Prozesse stehen, stellt er in der sechzehnteiligen Arbeit Unbekanntes Gedächtnis (1990/92) in unerhörter Dichte und Eindringlichkeit unter Beweis. Begriffspaare wie Erinnern und Vergessen, Ver-gangenheit und Zukunft, Täter und Opfer thematisiert Velten anhand des Gegenstandes Schädel/Helm so tiefgehend und formal so brillant, daß die Komposition in der Tat nicht weniger als jene gewaltige räumliche und zeitliche Dimension aufzunehmen vermag, auf die sich der Maler hier beruft.

Strukturelle und direkte historische Bezüge durchziehen auf verschiedenen Ebenen die Bildfindungen der neunziger Jahre. Auf der einen Seite, um aktuelle Stoffe im geschichtlichen Kontext zu beleuchten und die Konstanten freizulegen, welche die Menschheitsgeschichte durchziehen, vornehm-lich Konstanten einer Männerwelt, die ihr Spurengeflecht um die Welt zieht und deren Angriffslust, bewehrt von Bronze, Eisen und Titan fremde Topografien zum Feld der Ehre zertrampelt. [Bannkreise (1992), Anghiari-Spirale, Europäische Landschaft (1993), Strandung, Agonie, Goldene Horde (1994)] Es bedarf schon einiger Ignoranzaufwendungen, die Entstehungsgeschichte dieser Bilder nicht auch vor dem Hintergrund der Kriege in der Golfregion, auf dem Balkan oder im Kaukasus zu sehen. Die Nöte des Individuums, sich diesen Bannkreisen zu entziehen, verhandeln auf der anderen Seite Werkgruppen wie der Zyklus Mohnmenschen (1992) oder die Reihe Flugversuch (1993).

1992 entsteht ein Triptychon, das Velten Fleur du Mal nennt. Titelzitate tauchen immer wieder in seinem malerischen Programm auf, er widmet sich Schlüssel- und Leitbildern aus der Kunstge-schichte, um ihnen seine Version beizustellen. Les Fleurs du Mal, inzwischen zum Titel eines eigenen Arbeitsfeldes geworden, das immer wieder neue Bildgruppen hervorbringt und dessen Abschluß gegen-wärtig nicht in Sicht ist, geht einen anderen Weg. Les Fleurs du Mal („Die Blumen des Bösen“, so die deutsche Übersetzung der Gedichtsammlung, die Charles Baudelaire 1857 in Paris veröffentlicht) steht für eine literarische Anleihe, für den Anspruch einer gewerkübergreifenden Poetik der Künste und schert sich folgerichtig am wenigsten um den Wortlaut der Vorlage. Velten nimmt die Strahlung eines abgeschlossenen Kunstwerkes auf und verarbeitet die Impulse, die er aus den Sprachstrukturen empfängt, mit den Mitteln der Malerei, im Prozeß des Malens selbst. Die an Themen und Bildern reiche Textur der Baudelaireschen Schöpfung übersetzt er in sein eigenes Formensystem. Er schafft sich ein verbindliches Bauprinzip, das, einem Gefäß gleich, die Themen des Malers aufnimmt. Die Form des Ovals dominiert das Format und assoziiert Blütenformen, Fruchtstände, Samenkapseln, Zellformen, Leibeshöhlen oder auch Schnittbilder, die aus der medizinischen Forschung bekannt sind. So stellt Velten einen Kosmos her, einen konkreten Lebensraum für die Ausformung von Gedanken, für die Bildung und Rückbildung von Auswüchsen, ein florales Klima für neurologische Untersuchungen unter Laborbedingungen. Mal sind die schaurig-schönen Gebilde verschlossen, mal gewähren sie unerwartete Einblicke. Hier treibt der Maler eine finstere Erregung auf ihr Plateau und macht das Licht an, dort vermengt er Bild- und Schriftfetzen, mikro- und makroskopisch sezierte Gewebe mit der Nährlösung des Farbstrudels. Strandgut dümpelt sperrig in den aufgebrochenen Amphoren eines Körpers, Opferschalen treiben im Blütenstaub und umschiffen einen Archipel von metallisch leuchtender Transparenz – die Dimensionen der malerischen Bildtechnik sind nicht zu lösen von den multiplen Seh-Erfahrungen unserer vernetzten Medienexistenz. Der Blick wird von oben nach innen geführt, eine Perspektive, die Fortschritt und Begrenzung von Erkenntnis gleichermaßen provoziert. Die anhaltende Arbeit an Les Fleurs du Mal hat Velten Sphären eröffnet, deren Elemente auch in die parallelen und eigenständigen Bildfolgen einfließen. Zunehmend geht es um das Inwendige in der Wahrnehmung, um die Leitfähigkeit der Rezeptoren, um die osmotische Verknüpfung von Innen und Außen.

Sich dem Abenteuer dieser Bildbetrachtung auszusetzen, ist wie eine Reise durch die Schichten des Existenziellen. Ein funkelnder Tagtraum. Oder jene Lust, für die der Maler das nächtliche Lager bereitet hat, sich den Facetten des Unausgesprochenen, der skurrilen Leichtigkeit eines elemen-taren Empfindens hinzugeben. So werden Wahrheitsbereiche in einer Weise erschlossen, die in der über-bordenden Bildversorgung des Alltags regulierend wirken kann. Dafür hat Velten in den nunmehr zwanzig Jahren seiner bildnerischen Umtriebe Anlässe erzeugt, die sichtbar sind und bleiben.

© Andy Kern 1999